Vor ein paar Wochen berichteten wir über die Monday Note von Frédéric Filloux. Die beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Elektromobilität und dem damit verbundenen Wandel einer ganzen Industrie. Mit Philippe Chain, einem Automobilingenieur, der unter anderem bei Tesla und Audi gearbeitet hat, hat man einen absoluten Glücksgriff getan – denn der spricht tatsächlich „aus dem Nähkästchen“ und stellt Vergleiche an, die es in sich haben. Auch im neuesten Bericht finden sich Einsichten, die deutsche Automanager aufmerksam lesen sollten.
Viele Brancheninsider machen einen signifikanten Vorsprung bei Tesla aus. Dabei ist es völlig egal, ob der 3, 5 oder noch mehr Jahre beträgt. Immer wieder kommt das Argument: Tesla ist eigentlich ein IT-Unternehmen, das zufällig Automobile herstellt. Wobei einige Verfechter des klassischen Automobils selbst letzteres immer noch nicht glauben mögen. Der jüngste Artikel der beiden „Montagsmaler“ knackt auf eine sehr amüsante Weise mit einer Anekdote zum Model S eine Nuss: was unterscheidet das kalifornischen Unternehmen von anderen Autoherstellern?
Wir befinden uns im Jahr 2012, das Model S ist noch im Entwicklungsstadium, und 12 Personen im Konferenzraum des Tesla-Hauptwerks in Fremont bilden einen Krisenstab. In einer Testeinrichtung in Ohio wurden kritische Sicherheitstests mit dem Model S durchgeführt, aber die Nachrichten sind nicht gut. Die gesamte Entwicklung des Autos steht auf dem Spiel. Elon Musk weiß über das Problem bescheid, seine Reaktion war ein knappes „Löst es, Leute!“.
In den USA arbeitet die Autoindustrie, so berichtet Chain, nach einem Selbstzertifizierungssystem. Die Liste der 25 obligatorischen Tests wird von der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) erstellt und von den Autoherstellern selbst oder von Testlabors von Drittanbietern durchgeführt. In Ohio wurde am Model S gerade eine Frontalkollision mit niedriger Geschwindigkeit gegen eine Betonwand durchgeführt. Leider verhielten sich die Frontalcrashboxen nicht so, wie erwartet.
Wäre das nicht Tesla, sondern, ein deutscher Autohersteller gewesen, wäre der Test zuende gewesen. In wochenlangen Untersuchungen hätte man das Problem, den Problemverursacher und die Verfehlungen irgenwelcher Personen oder Zulieferer identifiziert. Dann hätte man sich nochmals an die Konstruktionsworkstations gesetzt, das Bauteil neu designed und irgendwann nach Monaten den nächsten Test anberaumt. Bei Tesla wollte man das nicht akzeptieren. Man hatte 4 (!) Tage Zeit, das Problem zu lösen.
Es beginnt das, was man bei der Bundeswehr den „kleinen Dienstweg“ oder „Gefreitendienstweg“ nannte: man schaute sich eine stärkere Stahlsorte aus und versuchte innerhalb kürzester Zeit ein neues Bauteil herzustellen, das die Spezifikationen erfüllte. Dazu suchte man eine spezielle Verarbeitungsanlage im Mittleren Westen auf. Natürlich funktionierte nicht alles auf Anhieb – Murphy schlug zwischenzeitlich gnadenlos zu (bestens nachzulesen in Chains Schilderung!). Schliesslich schaffte man es aber doch, buchstäblich in letzter Sekunde, ein neues Teil am Testwagen zu befestigen und den Test zu absolvieren. Das Model S besteht mit Bravour und bekommt maximale Punktzahl.
Die Entwicklung von neuen Fahrzeugen dauert lange. Der Vorlauf liegt in der Industrie bei wenigstens 5–8 Jahren. Das erklärt auch den Rückstand der digitalen Infotainment-Systeme: die befinden sich fast ausnahmslos auf einem Level unter einem iPhone vor 2010. Erscheint ein neues Modell, beginnt man mit der Entwicklung zum Nachfolger. Bislang war das kein Problem, denn die Weiterentwicklung schreitet beim Verbrenner nur noch in kleinen Trippelschritten voran. Größtes Problem ist eigentlich derzeit die Software, ein Betriebssystem und die Integration desselben in ein Fahrzeug. Da treffen zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander: die Welt der Ingenieure die mit Mechanik zu tun haben und die Welt der Software-Entwickler, die komplett anders ticken. Diese Welten sind schwer zu integrieren.
Tesla hat dieses Problem nicht. Da ziehen alle am selben Strang – denn die Hierarchien sind flach, Troubleshooting ist wichtig. Was allerdings auch zu einer hohen Belastung der Protagonisten und damit zu einer erhöhten Fluktuation führt. Zum Vergleich: Zum Zeitpunkt der Einführung des Modell S fanden laut Chain sich nur zwei Ebenen unterhalb von Elon Musk. Bei Audi beschäftigte sich Chain mit 4(!) Hierarchieebenen nur für die technische Abteilung, ergänzt durch zwei weitere Ebenen oben.
Zumindest bei Audi scheint man das erkannt zu haben. Das Projekt Artemis soll genau diese Defizite kompensieren. CEO Markus Duesmann hat das Projekt ins Leben gerufen und will damit die Entwicklung neuer Modelle beschleunigen. Die Idee: man arbeitet wie in einem Start-up mit flachen Hierarchien und weitgehend „unbürokratisch“. So will man bereits in spätestens 4 Jahren mit hocheffizienten Elektroautos auf den Markt kommen. Hauptaugenmerk legt man dabei auf Software, effiziente Elektroantriebe und natürlich intelligentes Batteriemanagement. Es wird sich weisen, ob deutsche Entwickler und agile Systeme Made in USA so zusammenpassen.
Volvo, bzw. Geely geht einen anderen Weg. Polestar wurde als „Elektromarke“ aus dem klassischen Geschäft herausgelöst. Durch die Konzentration auf die neue Technologie und die Offenheit konnte man mit dem Zwo ein beachtliches Debüt hinlegen. Freilich mit der Hilfe eines absoluten Softwaregiganten. Ohne Googles Auto-Betriebssystem hätte man das Ganze sicher nicht so schnell auf die Beine gestellt.
Unweigerlich kommt nun die Frage, ob die Deutschen diese Defizite aufholen können. VW arbeitet mit Hochdruck daran, den Rückstand bei Software, Betriebssystem und digitaler Steuerung aufzuholen. Auch die Stuttgarter und Münchner haben die Problematik erkannt. Allein: diese großen „Tanker“ sind derzeit in einer falschen Richtung unterwegs. Sachzwänge, Gewerkschaften, eine gewisse Sattheit verhindern, dass das der Tanker schnell die Richtung ändern kann. Dabei ist es noch nicht ausgemacht, ob beispielsweise Daimlers neue Luxusstrategie zielführend sein wird. Auch das Zaudern von BMW, die erneute Verzettelung auf „Technologieoffenheit“, aka Wasserstoffstrategie, lassen Zweifel darüber aufkommen, ob man den Knall schon gehört hat.
Fakt ist: Schnelligkeit ist Trumpf. Wie hat Chain es ausgedrückt? „Wir haben immer gesagt, dass ein Jahr bei Tesla anderswo sieben Jahre entspricht, genau wie »Hundejahre«“.
Bericht: Bernd Maier-Leppla, Fotos Tesla, Polestar, Audi, istock, EuroNCAP